Manchmal kenne ich mich selbst nicht mehr! Die meisten Angehörigen von Menschen mit Demenz wissen, dass die Betroffenen sich nicht absichtlich so schwierig verhalten, trotzdem kann es einem manchmal die Nerven zerreißen. Diplom-Psychologin Bianka Mohn kann sie verstehen und hält einige Tipps parat, die helfen können, wenn man mit seinem Latein am Ende ist und kaum noch Geduld aufbringt.

„Geduld ist die Kunst, nur langsam wütend zu werden" – sagt ein japanisches Sprichwort. Tatsächlich ist das, was Angehörigen von demenziell erkrankten Menschen am meisten abverlangt wird, unendlich viel Geduld! Aber ist das nicht auf Dauer einfach zu viel verlangt?

  • „Manchmal beantworte ich zehn Mal hintereinander dieselbe Frage!"
  • „Ich suche stundenlang die Brille meines Mannes und habe oft keine Idee mehr, wo er sie diesmal hingetan haben könnte! Und dann ist er nicht selten wütend und beschuldigt mich, ich hätte sie verlegt."
  • „Ich gehe oft in Minuten-Abständen mit meiner Frau zur Toilette, weil sie das Gefühl hat, dringend zu müssen. Sie ist dann wirklich in Not, obwohl sie manchmal gar nicht wirklich muss, aber sicher Angst davor hat, es könnte ein Malheur passieren."
  • „Es dauert so lange, bis sich mein Mann sein Frühstücksbrötchen geschmiert hat, und dann liegt doch die Hälfte neben dem Teller oder unter dem Tisch. Darum mache ich es dann doch oft lieber selbst..."

All das sind typische Aussagen von Rehabilitanden in der Rehabilitationsklinik für pflegende Angehörige im AMEOS Reha Klinikum Ratzeburg. Partner demenziell Erkrankter sind wahre Meister in Sachen Geduld und Selbstbeherrschung! Viele berichten zwar von aufsteigender Wut und aggressiven Impulsen, auch von lauter werdender Stimme, wenn so gar nichts beim Anderen anzukommen scheint. Aber – auf der anderen Seite steht immer eine große Portion Einfühlungsvermögen, Verständnis und Mitgefühl. „Er kann ja nichts dafür..." „Es ist ja die Krankheit, meine Frau will mich bestimmt nicht ärgern!" „Er tut mir dabei immer so leid, gerade weil er früher ein so kluger Mensch war!" Aber auch pflegende Angehörige sind Menschen wie du und ich, Menschen mit eigenem Temperament, mit Bedürfnissen und nicht unendlich ausweitbaren Belastungsgrenzen.

Wahre Meister der Selbstbeherrschung

Wenn ich ärgerlich werde, weil mir etwas nicht schnell genug geht oder jemand nicht versteht, was ich ihm sagen möchte, dann fange ich zunächst an, nonverbal zu reagieren: mit den Augen zu rollen, das Gesicht zu verziehen oder zu grummeln und leise zu stöhnen. Wenn das nicht reicht, weil nichts passiert, dann schimpfe ich auch schon mal vor mich hin, lasse einen Kraftausdruck fallen oder „meckere" ein bisschen mit meinem Gegenüber. Wenn dies zwar nicht wirklich - im Sinne einer Situationsveränderung - hilft, so fühle ich mich doch wenigstens etwas entlastet, der Ärger ist raus und der Andere hat vielleicht verstanden, dass „mit ihm etwas nicht stimmt" und ich genervt bin!

Nun kommen solche Situationen in meinem Alltag ja nicht allzu oft und vor allem nicht immer bei derselben Person vor. Wie muss es aber Menschen gehen, die tagtäglich einen demenzkranken Angehörigen pflegen und betreuen, Tag und Nacht mit ihm zusammen sind, ihn bei allen Tätigkeiten anleiten und unterstützen müssen? Bei einem Menschen, der zuvor eigenständig und klug war und den man wegen seiner Individualität geliebt hat, der aber plötzlich so gar nichts mehr versteht oder alles ganz schnell wieder vergisst. Bei einem Partner der sich aus Unsicherheit und Angst an einem festklammert und nicht mehr loslässt, bis es sogar schmerzt, z.B. wenn man ihm beim Hinsetzen helfen will. Oder der sich in manchen Momenten mit Vehemenz gegen alles wehrt, was man ihm anbietet und es dabei nur gut mit ihm meint...

Der Geduldsfaden reißt, das Fass läuft über

„Eigentlich war ich immer sehr ruhig und habe großen Wert auf Harmonie gelegt. Schimpfen oder Streiten lag mir gar nicht. In letzter Zeit erkenne ich mich manchmal selbst nicht mehr: ich schreie meinen Mann an, was mir hinterher natürlich sofort leid tut. Aber ich kann mich einfach nicht mehr beherrschen." - Auch das ist ein typischer Ausspruch einer Frau, die ihren an Demenz erkrankten Ehemann pflegt. Andere geben voller Scham zu, dass sie auch schon einmal „zurückgeschubst" oder ihren Partner unsanft festgehalten haben. Ich kann das nicht verurteilen. Mir würde der Geduldsfaden möglicherweise viel schneller reißen. Immerhin haben unsere Patienten oft monatelang nachts nicht mehr richtig geschlafen, sind erschöpft und stehen meistens meist allein mit der ganzen Arbeit und Verantwortung.

Wut, Ärger, Aggression sind Emotionen bzw. Affekte, die zu uns Menschen gehören wie Heiterkeit, Lebensfreude, Zuneigung, Liebe, Trauer u.a.m. Sie sind da und sie sind wichtig. Sie teilen uns etwas mit – über uns, unsere derzeitige Befindlichkeit und über die Beziehung, in der wir zu anderen stehen. Wichtig ist, sich der Gefühle bewusst zu sein, sie wahrzunehmen und sie ernst zu nehmen. So zu tun „als ob..." gelingt sicher eine Zeit lang, aber irgendwann ist eine Grenze erreicht und es funktioniert nicht mehr. Das Fass läuft über. So weit sollte es aber am besten gar nicht erst kommen. +

Gefühle und Affekte sind wichtige Warnsignale

Ein Gefühl von Wut und Ärger kann uns beispielsweise mitteilen: Es geht nicht mehr, ich bin an meiner Belastungsgrenze. Ich habe mir zu viel zugemutet, mich übernommen. Hier muss ich erstmal stoppen, nicht weiter „funktionieren", sondern mir meiner Situation bewusst werden.

  • Was ist passiert in diesem Moment? Welche besondere Situation hat gerade jetzt zu einem aggressiven Impuls oder einem Fluchtgedanken geführt? War es z.B. sowieso schon ein besonders stressiger Tag?
  • Was könnte sich über einen längeren Zeitraum schon angestaut haben?
  • Was hat sich bei mir verändert?
  • Was hat sich bei meinem Angehörigen verändert?

Um diese Fragen in Ruhe zu beantworten, braucht man ein bisschen Distanz. „Erstmal tief durchatmen!" sagt der Volksmund, und das sagt er ganz richtig! Was kann man tun, wenn man am liebsten laut schreien, mit Gegenständen um sich werfen oder einfach nur weglaufen würde?

Die Notbremse ziehen, um die Beherrschung nicht zu verlieren

Hier finden Sie einige Tipps, die sich u.a. am Beitrag „Notfallkoffer" der Beratungsseite pflegen-und-leben.de orientieren.

  • Zählen Sie ganz langsam und laut bis zehn.
  • Gehen Sie für ein paar Minuten aus dem Zimmer und tun Sie etwas anderes.
  • Gehen Sie an ein Fenster, sehen Sie hinaus und atmen Sie mehrmals und bewusst tief ein und aus.
  • Beobachten Sie, was vor dem Fenster gerade geschieht und machen Sie sich das Gesehene bewusst: Gehen Menschen vorbei? Können Sie jemanden erkennen? Ist es hell oder schon dunkel? Sehen Sie den Himmel, die Sonne, den Mond? Ziehen Wolken vorbei?
  • Lenken Sie Ihre Gedanken von der gerade erlebten Situation zur Konzentration auf diesen Augenblick: Wo befinden Sie sich gerade, welcher Tag und wie spät es ist, was haben Sie sich für den nächsten Tag vorgenommen?
  • Sagen Sie laut zu sich selbst einen selbstberuhigenden Satz, z.B. „Nicht so schlimm, nachher geht es bestimmt wieder besser/ leichter, " oder „Ärgere dich nicht. Es ist wie es ist."
  • Gläubigen Menschen hilft oft ein kurzes Gebet.
  • Wer eine Entspannungsmethode wie z.B. „Autogenes Training" oder „Progressive Muskelentspannung" beherrscht, kann kurz ein paar Übungen daraus nutzen, einige wenige Formeln bzw. Übungen genügen meistens.
  • Besonders hilfreich ist es, wenn Sie mit jemandem reden können – einem Freund, einer Freundin, Familienangehörigen oder Nachbarn. Rufen Sie jemanden an. Manchmal hilft schon ein kurzes Gespräch zur Entlastung oder Ablenkung. Legen Sie sich am besten die wichtigsten Telefonnummern an einen Ort, wo Sie sie schnell griffbereit haben und Ihr Partner sie auch möglichst nicht verlegen kann.
  • Und vielleicht kann sogar jemand aus dem Verwandten- oder Freundeskreis, eine ehrenamtliche Betreuerin oder ein verständnisvoller Nachbar kurz einspringen und die Betreuung des demenziell Erkrankten vorübergehend übernehmen.

Durch solche und ähnliche kurze „Kriseninterventionen" kann man sich ablenken, die Situation entspannen und sich danach selbst wieder besser steuern. Man vermeidet letztlich, dass man dem aggressiven Impuls mitunter tatsächlich folgt. Der Austausch in Gesprächen, beispielsweise einer Angehörigengruppe kann entlastend sein. Hier erfahren pflegende Angehörige, dass es anderen ganz ähnlich geht, dass auch andere in Überforderungssituationen dieselben Empfindungen und Impulse erleben und manchmal eben doch die Beherrschung verlieren – deshalb aber keine Unmenschen oder Monster sind.

Notruftelefone 

Notruftelefone für Angehörige sind oft nur Montags bis Donnerstag oder Freitag erreichbar. Was aber ist, wenn man am Wochenende plötzlich „nicht mehr ein noch aus weiß"? Die Telefonseelsorge der christlichen Kirchen in Deutschland ist rund um die Uhr zu erreichen: Evangelische Telefonseelsorge, Tel.: 0800 / 111 0 111, Katholische Telefonseelsorge, Tel.: 0800 / 111 0 222

Weitere Informationen

Die Rehabilitationsklinik für pflegende Angehörige im AMEOS Reha Klinikum Ratzeburg gibt Auskunft über ihre Rehaleistungen und die Mitnahme des Demenzbetroffenen. Telefonische Beratung: 04541 13 38 00.