Für die Psychiatrie ist Kunst notwendig
In welcher Weise kann die gut bekannte günstige Wirkung von Kunst auf die Gesundheit, besonders die psychische verstanden werden? Wie kann eine therapeutisch ausgerichtete künstlerische Begleitung zur Stärkung der individuellen Freiheit in den klinischen Alltag integriert werden? Was folgt auf eine entsprechende Therapie? Wie lassen sich diese Ressourcen schon in der Prävention psychischer Erkrankungen mobilisieren?
In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Künste im Sozialen Ottersberg gehen wir am AMEOS Klinikum Bremen diesen Fragen seit 2014 nach, in Behandlung, Lehre und Forschungsprojekten. Allen unseren stationären und teilstationären Patientinnen und Patienten bieten wir Kunsttherapie an. Neben Malen und Plastizieren gibt es Theater- und Musiktherapie, eine Garten-/Landart-Gruppe und Schreibwerkstätten. Solche Therapieformen werden auch den Patientinnen und Patienten in unserer Psychiatrischen Institutsambulanz ermöglicht.
Gemeinsam stark: Kunst als Weg zur Heilung in Bremens sozialen Einrichtungen
Ab Oktober 2023 beteiligen wir uns an dem Modellprojekt „Kunst auf Rezept“ der Volkshochschule. Kooperierende Einrichtungen geben eigens dafür gestaltete Rezepte aus, die zur kostenlosen Teilnahme an VHS-Kursen berechtigen. Die ersten Teilnehmenden kommen aus unserer Psychiatrischen Tagesklinik.
In Bremen finden sich darüber hinaus künstlerische Angebote bei psychischen Krisen und Krankheiten in Tagesstätten, im Betreuten Wohnen und in freien künstlerischen Initiativen, wie dem „Blaumeier Atelier“ oder bei der „Blauen Karawane“. Eine neue erfreuliche Initiative nennt sich „Brynja e.V.“ und versteht sich als sozialräumliche Prävention von psychischen Krisen, niedrigschwellige Nachbarschaftshilfe, speziell für junge Menschen, die keinen Zugang zu Richtlinienpsychotherapie oder Klinik finden oder sich dort nicht verstanden fühlen. Alle genannten Erscheinungsformen von Kunst im Sozialen sind verbunden über die Anleitung und Förderung künstlerischer Prozesse als Unterstützung von Genesung und Empowerment.
Die therapeutische Kraft der kreativen Selbstgestaltung
In der Kunsttherapie können die von psychischen Krankheiten praktisch eingeschränkten Personen das Handhaben ihrer individuellen Freiheit zur Mitgestaltung der jeweils eigenen Lebenssituation und Biografie erlernen oder wiederentdecken. Die Kunst stellt somit nicht nur eine angenehme Beschäftigung dar, sondern besitzt das Potential einer kausal wirksamen Therapie bei psychischen Störungen. Besonders wirksam zeigen sich diese Prozesse in Gruppenarbeiten.
Durch Krankheit werden die individuellen Spielräume je unterschiedlich eingeengt, werden Freiheitsgrade des Verhaltens und Empfindens, des Denkens, Fühlens und Wollens so verringert, dass die Betroffenen nicht mehr die Möglichkeit haben, in einer neuen Situation sich angemessen zu verhalten. Es tritt die Krankheit zunehmend an die Stelle eines inneren Regisseurs. Unter psychischer Krankheit verstehen wir eine Einschränkung von individueller Freiheit, sich zu konstituieren.
Die von Depressionen Betroffenen wirken wie erdrückt unter der Last. Handlungsunfähig infolge der Ambivalenzen und Dissoziationen erleben sich Menschen in schizophrenen und schizoaffektiven Psychosen. Bei Süchten besteht in der Regel kritische Distanz zum symptomatischen Freiheitsverlust, allerdings fehlt über längere Zeit die Kraft, sich gemäß den eigenen Vorstellungen zu verhalten. Manien erscheinen nur auf den ersten Blick als Widerspruch zu dieser Pathologie der verlorenen Freiheit, denn dabei fehlt die Fähigkeit, sich an Normen halten zu können. Der manische Aufbruch stellt eine Pseudo-Freiheit dar.
Die künstlerische Therapie nimmt eine spezielle Rolle ein, da sie mehr noch als Psycho- oder Bewegungstherapie an der Pathologie der psychischen Krankheit ansetzt und dieser den befreienden Entwicklungsprozess des Erlernens eigener künstlerischer Aktivitäten entgegenstellt.
Zum Weiterlesen
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Artikel "Für die Psychiatrie ist Kunst notwendig", den unser Ärztlicher Direktor und Chefarzt, Prof. Dr. Uwe Gonther, für die Zeitschrift "Soziale Psychiatrie" der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. verfasst hat.
Quelle: Gonther, Uwe: Für die Psychiatrie ist Kunst notwendig, in: Soziale Psychiatrie 48 (2024), S. 8-10.
Den vollständigen Artikel können Sie hier herunterladen: